Verschläft der deutsche Mittelstand die Zukunft?

Dieser Beitrag wurde zuletzt am 17. November 2019 aktualisiert.

“Made in Germany” gilt weltweit als Qualitätssiegel. Doch auf diesem guten Ruf dürfen sich deutsche Unternehmen nicht ausruhen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung und des Forschungsinstituts IW Consult zeigt, dass nur wenige Unternehmen in Deutschland die nötige Innovationskraft haben, um ihre Wettbewerbsposition auch langfristig zu sichern.

Das Handelsblatt fasst zusammen: “Angesichts immer kürzerer Innovationszyklen und der Tatsache, dass bahnbrechende Erfindungen inzwischen meist aus dem Ausland kommen, muss Deutschlands erfolgsverwöhnte Industrie aufpassen, im internationalen Wettbewerb nicht ins Hintertreffen zu geraten. Das zeigt auch eine neue exklusive Studie der Bertelsmann Stiftung und des Forschungsinstituts IW Consult.

Demnach verfügt nur ein Viertel der Unternehmen über die nötige Innovationskompetenz und -kultur, um ihre Wettbewerbsposition langfristig zu sichern. Fast die Hälfte der Firmen hat es dagegen in den zurückliegenden Jahren verpasst, ihr Innovationsprofil an neue Bedingungen anzupassen. Das trifft vor allem auf kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) zu. „Verpassen diese KMU den Zeitpunkt für den notwendigen Strukturwandel hin zu mehr Innovationsfähigkeit, können sie und ihre Beschäftigten schnell zu Opfern veränderter Marktbedingungen werden“, warnt Armando García Schmidt von der Bertelsmann Stiftung.

Für die Studie wurden gut 1 000 Industrieunternehmen und industrienahe Dienstleister zu Faktoren wie neu eingeführten Produkt- oder Prozessinnovationen, ihrer Vernetzung mit der Wissenschaft, ihrer Stellung im Wettbewerb oder zur Organisation von Forschung und Entwicklung befragt. Aus den Ergebnissen haben die Forscher anschließend sieben verschiedene Innovationsmilieus entwickelt, denen sich die einzelnen Firmen zuordnen lassen.

Die Ergebnisse überraschen, haben sich doch die Forschungs- und Entwicklungsausgaben der deutschen Wirtschaft seit der Jahrtausendwende auf zuletzt 88 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Auch galten große Branchen wie Autoindustrie oder Maschinenbau als innovationsstark. Doch schon die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) hatte 2018 festgestellt, dass der Anteil von Unternehmen, die sich mit Produkt- oder Prozessinnovationen hervortun, seit 1999 von 56 auf 35 Prozent zurückgegangen ist.

Nur sechs Prozent der Unternehmen können sich demnach Technologieführer nennen. Sie verschieben die technologische Grenze stetig weiter nach außen, was sich unter anderem in einer großen Zahl von Patentanmeldungen und einer starken Vernetzung mit der Wissenschaft widerspiegelt. Die Technologieführer kommen vorrangig aus den Branchen Chemie und Pharma, Kunststoff sowie Metall und Elektro.

Knapp ein Fünftel der Unternehmen zählen die Studienautoren zu den „Disruptiven Innovatoren“. Dieses Milieu zeichnet sich durch eine hohe Risikobereitschaft und den Mut zu radikalen Innovationsprojekten aus, die oft unter Einbindung aller Mitarbeiter abseits klassischer Hierarchien entwickelt werden. Entsprechend finden sich hier viele Start-ups – knapp ein Viertel der Unternehmen dieser Gruppe wurde erst in den vergangenen zehn Jahren gegründet.

Deutschland rangiere in internationalen Rankings zur Innovationsfähigkeit seit Jahren auf den vorderen Plätzen und zählt laut Weltwirtschaftsforum zu den zehn forschungsintensivsten Volkswirtschaften der Welt, teilte dazu das Bundeswirtschaftsministerium mit. „Deutsche Unternehmen sind hochinnovativ. Wir müssen aber vor allem den Mittelstand stärker unterstützen“, sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) dem Handelsblatt. Daneben müsse der Transfer von Innovationen in die Praxis schneller gelingen.

Der Spitzengruppe stehen am anderen Ende der Skala 46 Prozent der Unternehmen gegenüber, die wenig bis gar nicht innovativ sind. Das Gros verschließt sich neuen Technologien nicht, doch fehlt eine klare Strategie. Im besten Fall gelingen Innovationen im Zufallsprinzip. Oder die Firmen sind gut vernetzt mit ihren Kunden und profitieren von deren Vorschlägen zur Verbesserung ihrer Produkte und Dienstleistungen.

Innovationen werden also nicht aktiv vorangetrieben, sondern eher passiv aufgegriffen. Dies gilt vor allem für Firmen aus den Bereichen Bau, Logistik und Großhandel sowie viele industrienahe Dienstleister – und fast ausschließlich handelt es sich um Mittelständler mit weniger als 50 Millionen Euro Jahresumsatz.

Jedes neunte Unternehmen, auch hier fast nur Kleinbetriebe, hält Innovationen nicht für wettbewerbsrelevant oder sieht sich nicht in der Lage, sie umzusetzen. „Die größte Gefahr ist der Erfolg von gestern“, sagt Markus Thomzik, Forschungsprofessor am Institut für angewandte Innovationsforschung (IAI) der Ruhr-Uni Bochum.

In „saturierten“ Gesellschaften und Firmen sei es sehr schwer, Neues zu wagen. Unternehmen müssten aber Mut zum Risiko haben und eine Fehlerkultur etablieren, weil 80 Prozent aller Innovationsprojekte scheiterten. Zugleich seien sie gezwungen, wenig Fehler zu machen, wenn sie Geld verdienen wollen. „Das ist ein Spagat“, sagt Thomzik.

Dabei zeigt die Studie auch – wenig überraschend – dass Innovationserfolg direkt mit wirtschaftlichem Erfolg zusammenhängt. So fällt etwa die Nettoumsatzrendite, also der Anteil des Gewinns am Umsatz, bei den befragten „Disruptiven Innovatoren“ um 33 Prozent höher aus als im Durchschnitt aller Milieus. Auch die Beschäftigung ist bei den Innovationsführern doppelt so schnell gestiegen wie bei innovationsfernen Unternehmen.

Vor allem der Mittelstand droht den Anschluss zu verlieren, warnt die Bertelsmann-Studie. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz böten neue Chancen, sagte Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) dem Handelsblatt. „Wir müssen kleinen und mittleren Unternehmen aber helfen, sie wahrzunehmen.“

Etwa, indem Wissenschaft und Wirtschaft noch enger zusammenarbeiten. Die Bundesregierung hatte nach langem Ringen endlich die steuerliche Forschungsförderung auf den Weg gebracht, um dem Mittelstand zu helfen. Allerdings streitet die Große Koalition derzeit noch über Details, sodass die für diese Woche geplante Verabschiedung im Bundestag verschoben wurde.

Dass vor allem kleine und mittlere Betriebe bei der Entwicklung neuer Technologien ins Hintertreffen geraten, führen die Studienautoren mit darauf zurück, dass der digitale Reifegrad bei ihnen noch sehr gering ausgeprägt ist – auch weil sie oft ihren Sitz nicht in mit Breitband versorgten Metropolen haben oder zu wenig Geld in digitale Technologien stecken. Investieren die „Disruptiven Innovatoren“ im Schnitt 5,8 Prozent ihres Umsatzes in die Digitalisierung von Prozessen und Geschäftsmodellen, sind es über alle Milieus nur 3,4 Prozent.

„Die traditionelle Stärke der deutschen Wirtschaft liegt ja gerade in der Breite, bei den über Tausend Hidden Champions beispielsweise, die sich oftmals abseits der großen Metropolen finden“, sagt Dieter Janecek, Sprecher für Industriepolitik und digitale Wirtschaft der Grünen-Bundestagsfraktion. Wenn viele KMU den Anschluss an Innovation und Digitalisierung zu verlieren drohten, dann müsse uns das Sorgen machen. „Hier rächt sich auch, dass die Regierung den Ausbau der digitalen Infrastruktur gerade in ländlichen Räumen hat schleifen lassen.“

Auch Bertelsmann-Experte García macht sich für Investitionen in die klassische und vor allem die digitale Infrastruktur stark, damit die Vielzahl der KMU und auch der Unternehmen im ländlichen Raum den Anschluss nicht verliert. Allerdings können die Unternehmen selbst auch mehr für ihren Innovationserfolg tun. So könnten in Netzwerken oder Clustern Projekte gemeinsam gestemmt werden, die sich ein einzelnes Unternehmen nicht zutraue.

Die von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte steuerliche Forschungsförderung, über die im Detail immer noch gestritten wird (siehe nebenstehenden Artikel), halten die Forscher dagegen nicht für zielführend. Die geplanten Mittel von gut fünf Milliarden Euro für die Jahre 2021 bis 2024 seien zu gering und würden außerdem „nach dem Gießkannenprinzip verteilt“.

Besser wären gezielte Förderinstrumente, die den Aufholprozess von KMU unterstützen, die richtigen Rahmenbedingungen für technologisch versierte Start-ups setzen und die Grundlagenforschung stärken, heißt es in der Studie. „Wir müssen Unternehmergeist hierzulande deutlich mehr fördern und wertschätzen“, sagt der innovationspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Thomas Sattelberger.

Nötig seien zudem die qualifizierte Einwanderung Hunderttausender Tech-Spezialisten, eine rasch umzusetzende steuerliche Forschungsförderung und „blitzschnelle Maßnahmen“ für vernünftige digitale Infrastruktur.

Mehr: Europa fällt bei Schlüsseltechnologien zurück. Nur acht Prozent der Ausgaben für Forschung und Entwicklung entfallen auf europäische Firmen, sagt eine Studie. Vor allem bei der Vermarktung gibt es Probleme.”